Im Interview mit Dr. Julia Verlinden MdB
In der Blog-Reihe energieheld fragt – Experten antworten, interviewt Energieheld regelmäßig Experten aus den verschiedensten Bereichen. Diverse wichtige Punkte zur Technik, zum alltäglichen Umgang mit Energie oder zur aktuellen energiepolitischen Lage werden angesprochen. In der Reihe kommen Blogger, Politiker, Unternehmen, Prominente und viele mehr zu Wort.
Zu Gast: Julia Verlinden
Julia Verlinden, geboren am 18. Juli 1979 in Bergisch Gladbach, ist eine deutsche Politikerin vom Bündnis 90/Die Grünen und Expertin für Energiepolitik. Nach ihrem Studium der Umweltwissenschaften an der Universität Lüneburg promovierte sie in diesem Fach und untersuchte die Umsetzung der EU-Gebäude-Richtlinie in Deutschland. Bis Oktober 2013 übernahm sie die Leitung des Fachgebiets „Energieeffizienz“ am Umweltbundesamt.
Ihr politisches Engagement führte sie 2013 in den Deutschen Bundestag, wo sie sich seither als Abgeordnete mit Nachdruck für Klimaschutz, erneuerbare Energien und Energieeffizienz einsetzt. Seit 2021 ist sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Neben ihrer parlamentarischen Arbeit engagiert sie sich auch privat für die Energiewende und einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen.
energieheld: Frau Verlinden, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit uns nehmen.
energieheld: Seit wann liegt Ihnen das Thema Umweltschutz am Herzen, und was hat Sie dazu gebracht, sich dafür einzusetzen?
Dr. Julia Verlinden: Umweltschutz hat mich bereits als Jugendliche beschäftigt. Warum ist der Regenwald wichtig? Wie können wir die Wale schützen? Wann schaltet Deutschland seine Atomkraftwerke ab? Als Redakteurin für Umweltthemen bei der Schülerzeitung wollte ich allen deutlich machen, dass sich etwas ändern muss.
Ich fand es ungerecht, dass politische Entscheidungen oft dramatische Auswirkungen für Menschen haben, die sie nicht beeinflussen können – weil sie zu jung oder noch gar nicht geboren sind oder weil sie in anderen Teilen der Welt leben.
Auf die vielen ökologischen Probleme nur hinzuweisen, war mir bald nicht mehr genug. Ich wollte etwas tun: Verantwortung für die Zukunft übernehmen, Zivilcourage zu zeigen. In den Jugendorganisationen von Greenpeace, NABU und BUND traf ich auf viele Gleichgesinnte. Gemeinsam dachten wir uns Aktionen aus, organisierten Fahrraddemos für die Energiewende. Als wir das erste Mal mit einem großen Fahrradcorso über die Autobahn fuhren, war das ein fantastisches Gefühl: Wir können die Welt auf den Kopf stellen! Jetzt war ich mir sicher: Am Projekt Weltrettung bleibe ich dran.
energieheld: In unserem Interview 2021 sagten Sie, die nächste Bundesregierung müsse einen riesigen Nachholbedarf leisten. Ist das in der Ampel-Koalition gelungen?
Dr. Julia Verlinden: Zu Beginn unserer Regierungsbeteiligung haben wir in der Tat einen riesigen Berg von Klimaschulden von den Vorgängerregierungen übernommen. Damals gab es mit Blick auf 2030 eine Klimaschutzlücke von 1.100 Millionen Tonnen CO2. Oder anders gesagt: statt 65 Prozent Reduktion des Kohlendioxids wäre man nur auf 50 Prozent gekommen. So wäre Deutschland seiner Verpflichtung aus dem Pariser Klimaschutzabkommen nicht nachgekommen.
Im Vergleich dazu sind wir einen riesigen Schritt vorangekommen und haben die Lücke zu einem großen Teil geschlossen. Ich habe neulich mal Bilanz gezogen: In über 20 Gesetzespaketen, Förderprogrammen oder anderen konkreten Maßnahmen haben wir in der Koalition Verbesserungen beim Klimaschutz durchgesetzt, die genau das ermöglichen: weniger fossile Energien zu verbrennen und damit dem Klimaziel einen großen Schritt näher zu kommen.
Während Deutschland vor wenigen Jahren noch am Tropf russischen Erdgases und klimaschädlicher Kohle hing, haben wir seit dem Regierungswechsel in kurzer Zeit die Kehrtwende geschafft und die deutsche Energieversorgung kraftvoll in Richtung Erneuerbare umgesteuert.
An erster Stelle haben die bisherigen Beschlüsse von Regierung und Parlament den Ausbau von Photovoltaik und Windenergie im Land deutlich vorangebracht. Während Deutschland vor wenigen Jahren noch am Tropf russischen Erdgases und klimaschädlicher Kohle hing, haben wir seit dem Regierungswechsel in kurzer Zeit die Kehrtwende geschafft und die deutsche Energieversorgung kraftvoll in Richtung Erneuerbare umgesteuert. Heute wird bei der Photovoltaik eine Zielmarke nach der anderen übertroffen. Nachdem wir das 9 GW-Zubauziel für neue Solaranlagen 2023 bereits drei Monate vor Jahresende erreicht haben, wurde in diesem Jahr das Gesamtausbauziel von 88 GW bereits ein halbes Jahr früher als geplant erreicht. Für das Jahr 2024 rechnet der BDEW mit insgesamt 17,5 GW Zubau. Mehr Solarausbau in einem Jahr gab es nie in der Geschichte der Bundesrepublik.
Durch unsere Beschlüsse für Bürokratieabbau, Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung, Standardisierung und das Windenergieflächenbedarfsgesetz sind die Neugenehmigungen für Windenergieanlagen in diesem Jahr auf einen Rekordwert von über 11 GW angestiegen. Noch nie wurden in Deutschland so viele Windkraftanlagen genehmigt.
Parallel zum beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren haben wir den Kohleausstieg im Westen auf das Jahr 2030 vorgezogen. Ostern 2024 wurden zum Beispiel 15 Braun- und Steinkohlekraftwerke endgültig abgeschaltet. Das vermeidet massiven CO2-Ausstoß.
Auch beim Verkehr gibt es Erfolge: die LKW-Maut haben wir so angepasst, dass sie CO2-Emissionen stärker berücksichtigt, sowie weitere Fahrzeuge einbezieht, was zu einer umweltfreundlicheren Logistik beitragen soll. Die Einnahmen aus der Maut fließen jetzt zum größeren Teil in die Schiene, wo wir endlich erheblich mehr Geld investieren. All diese Anstrengungen haben zum Ergebnis, dass die Einhaltung des Klimaziels für 2030 jetzt wieder in greifbarer Nähe ist.
energieheld: In einer Rede vom Juni im Bundestag meinten Sie „wir sind noch nicht am Ziel. Gerade in den Sektoren Verkehr und bei Gebäuden muss noch schneller und noch mehr in Sachen Klimaschutz passieren.“ Nun ist die Legislaturperiode durch die Neuwahlen fast zu Ende. Was muss aus ihrer Sicht in der kommenden Wahlperiode in diesen Bereichen dringend angegangen werden?
Dr. Julia Verlinden: Leider ging es nicht in allen Bereichen mit demselben Tempo des Energiesektors voran. Der Expertenrat für Klimafragen hat zu Recht auf den Gebäude- und den Verkehrssektor hingewiesen. Zwar konnten wir auch in diesen Bereichen schon einige wichtige Maßnahmen zum Klimaschutz umsetzen. Beispielsweise haben wir in der Novelle des Straßenverkehrsgesetzes das Ziel „Klimaschutz“ gleichrangig neben die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs gestellt. Und durch die kürzlich reformierte LKW-Maut verwenden wir neuerdings die Mauteinnahmen vor allem für die Schiene, nicht wie bisher nur für den Straßenbau.
In der kommenden Legislaturperiode wird es vor allem darauf ankommen, mutig zu investieren, damit unser Land wieder für alle funktioniert. Dazu brauchen wir einen Deutschlandfonds in Verbindung mit einer Reform der Schuldenbremse.
Mit einer verbesserten und zielgerichteten Heizungsförderung sorgen wir dafür, dass Menschen sich den Umstieg auf klimaneutrales Heizen leisten können. Bis zu 70 Prozent Zuschuss gibt es für neue dafür. Sozial gestaffelt und mit Geschwindigkeitsbonus. Doch diese Maßnahmen reichen noch nicht aus, um die Sektorziele (die es entgegen vieler Behauptungen auch im novellierten Klimaschutzgesetz unverändert gibt) zu erreichen. Der Handlungsdruck bleibt hoch.
In der kommenden Legislaturperiode wird es vor allem darauf ankommen, mutig zu investieren, damit unser Land wieder für alle funktioniert. Dazu brauchen wir einen Deutschlandfonds in Verbindung mit einer Reform der Schuldenbremse. Mit dessen Hilfe wollen wir unter anderem das Nahverkehrsangebot so weit verbessern, dass es mittelfristig von 6 bis 22 Uhr eine Mobilitätsgarantie von einem Anschluss mindestens jede Stunde gibt. Egal ob im Dorf oder in der Stadt. Die Erfolgsgeschichte Deutschlandticket muss fortgeschrieben und der Preis von 49 Euro sowie das Bestehen des Tickets langfristig gesichert werden. Und nicht zuletzt brauchen wir endliche ein Sicherheitstempo von 130 auf den deutschen Autobahnen.
Im Wärmebereich wollen wir die Unterstützung für Kauf und Installation klimafreundlicher Heizungen ausbauen. Begleitet von verstärkter Energieberatung. Auch die Investitionen in effizientere Gebäude, effiziente Wärmenetze wollen wir stärken.
energieheld: Welchen Wandel haben Sie in der öffentlichen Meinung betreffend der Themen Klimawandel, Energiepolitik und Umweltschutz seit der letzten Bundestagswahl beobachtet? Stehen heute andere Themen wie Krieg vielleicht stärker im Fokus?
Dr. Julia Verlinden: Ich nehme nach wie vor wahr, dass es viele Menschen gibt, die über die Folgen der Klimakrise sehr besorgt sind. Junge Menschen, die sich um ihre Zukunft sorgen, aber mittlerweile auch Menschen, die durch Extremwetterereignisse am eigenen Leib erfahren mussten, welchen Schaden die Klimakrise auch in ihrem direkten Lebensumfeld anrichten kann. Diese Sorgen kann ich sehr gut verstehen und teile sie. Gleichzeitig gibt es Menschen, die verunsichert sind und Fragen haben, die mit der Transformation zusammenhängen. Die z. B. wissen wollen: Wird das Haus im Winter auch wirklich warm mit einer Wärmepumpe? Oder: wird es genug Ladesäulen geben für Elektro-Autos? Und was wird das eigentlich kosten?
Aufgabe von Politik ist es, im Gespräch mit den Menschen zu sein, zuzuhören, aber auch zu erklären – z. B. welche Förderprogramme es gibt. Und zahlreiche andere Akteursgruppen sind ja auch wichtige Ansprechpartner*innen für die Menschen bei solchen Fragen: z. B. die Verbraucherzentralen oder Umweltverbände oder Gewerkschaften.
Leider gibt es politische und wirtschaftliche Akteure, die mit Desinformationen bewusst verunsichern und Ängste bei Menschen schüren, die gegen Klimapolitik hetzen oder lobbyieren, weil sie sich kurzfristigen politischen oder wirtschaftlichen Gewinn dadurch versprechen. Die fossile Industrie hat viel zu verlieren und kämpft ein letztes Abwehrgefecht gegen eine Transformation in eine klimaneutrale Gesellschaft. Ihr Ziel ist es, Vertrauen in Veränderung zu zerstören und solch eine Verunsicherung kann dann auch lähmen.
energieheld: Angenommen, Sie könnten ein Gesetz im Bundestag ohne Gegenstimmen durchbringen – welches wäre das und warum?
Dr. Julia Verlinden: Als überzeugte Demokratin und Parlamentarierin bin ich ehrlich gesagt ganz froh, dass es in der Politik Meinungsvielfalt und Debatte gibt. Zu viel Einstimmigkeit ist also gar nicht so erstrebenswert.
Aber wenn ich mir ein Gesetz aussuchten könnte, welches sofort Wirklichkeit werden würde, wäre es vermutlich ein Tempolimit auf Autobahnen. Damit wäre auf einen Schlag viel fürs Klima getan und gleichzeitig würde die Sicherheit im Verkehr steigen.
Fazit
Trotz wachsender Erfolge beim Ausbau erneuerbarer Energien – etwa bei Windkraft und Photovoltaik – müssen Verkehrs- und Gebäudesektor konsequent auf Klimaneutralität ausgerichtet werden. Dazu gehören der zügige Umstieg auf klimafreundliche Heizungen, eine flächendeckend bessere Energieberatung und ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, der sich am Bedarf der Bürger orientiert.
Gleichzeitig gilt es, bürokratische Hürden weiter abzubauen und für verlässliche, sozial gerechte Förderprogramme zu sorgen, damit niemand bei der Energiewende abgehängt wird. Ebenso sollten wir den offenen Dialog mit der Bevölkerung suchen, um Ängste abzubauen und echte Mitgestaltung zu ermöglichen. Nur so lässt sich das Ziel erreichen, Klimaschutz voranzutreiben, Arbeitsplätze zu sichern und zugleich die Lebensqualität aller zu verbessern.
Bildverzeichnis
Titelbild: © Nils Leon Brauer | Julia Verlinden